Verlag | Klett-Cotta |
Auflage | 2010 |
Seiten | 616 |
Format | 13,8 x 21,2 x 4,2 cm |
Gewicht | 730 g |
Reihe | Gormenghast 1 |
Übersetzer | Annette Charpentier |
ISBN-10 | 3608939210 |
ISBN-13 | 9783608939217 |
Bestell-Nr | 60893921A |
Gormenghast - das mächtige, labyrinthische Schloß, der Stammsitz der Grafen Groan, gehört zwar keiner Zeit an und keinem bestimmten Ort, doch so, wie Mervyn Peake seine phantastische Geschichte erzählt, bleibt weiter nichts unbestimmt ...
Im Gegenteil: jede Szene wird grell ausgeleuchtet, wird geradezu furchterregend nahegerückt. Bewohnt wird das Schloß von erstaunlichen Figuren mit ausgesprochenen Mittelstandsallüren, die der Autor so dicht heranführt, daß man sie beinahe berühren könnte. Und den fetten Swelter zu berühren, die massige Lady Gertrude oder den spinnenhaften Mister Flay, das wäre in der Tat ein Schock.
Ein Fantasyroman voll schillernder Figuren und einem labyrinthischen Schauplatz, der skurriler nicht sein könnte. Mervyn Peakes zeitloses Meisterwerk ist das Vorbild für viele moderne Fantasyautoren.
»Gormenghast« ist von der Hand eines Zauberers geschrieben.
Leseprobe:
Die Halle der Edlen Schnitzwerke
Gormenghast - oder genauer: Der größte Teil des alten Mauerwerks - hätte, für sich gesehen, eine bestimmte, eindrucksvolle Bauweise repräsentiert, wäre es nur möglich gewesen, jene umliegenden schäbigen Behausungen zu ignorieren, die sich wie eine krankhafte Wucherung um die Außenmauern legten. Sie breiteten sich über den Hang aus, eine jede halb über dem Nachbargebäude aufragend, bis die oberen Hütten, aufgehalten durch die Befestigungen der Burg, wie Napfschnecken am Felsen klebten. Aufgrund eines alten Gesetzes war diesen armseligen Behausungen die fröstelnde Nähe der über ihnen drohenden Festung gewährt. Zu allen Jahreszeiten fielen über die unregelmäßigen Dächer die Schatten der von der Zeit angenagten Zinnen, der zerfallenen und der hochaufragenden Türmchen und, am gewaltigsten, der Schatten des Pulverturms. Dieser Turm, ungleichmäßig mit Efeu bewachsen, erhob sich wie ein verstümmelter Finger aus einer Faust von knöchelartigem Mauerw erk und wies blasphemisch gen Himmel. Des Nachts verwandelten ihn die Eulen in einen hallenden Schlund; tagsüber ragte er stumm auf und warf seinen langen Schatten. Zwischen den Bewohnern jener äußeren Hütten und denen, die innerhalb der Mauern lebten, gab es kaum Umgang, außer wenn am ersten Junimorgen eines jeden Jahres sämtliche Bewohner der Lehmhütten Erlaubnis erhielten, den Besitz zu betreten und die Holzschnitzereien vorzustellen, an denen sie das ganze Jahr gearbeitet hatten. Diese Schnitzwerke, mit sonderbaren Farben bemalt, stellten gewöhnlich Tiere oder Menschen dar und waren in höchst einzigartiger Weise gestaltet. Der Wettbewerb um die besten Werke eines Jahres war hart und erbittert. Wenn die Tage der Liebe verronnen waren, galt die einzige Leidenschaft der dort lebenden Menschen der Herstellung jener Holzskulpturen, und in dem Durcheinander von Hütten am Fuß der Außenmauer lebten ein paar begabte Kunsthandwerker, deren Stellung als beste Schnitzer ihnen den Ehrenpla tz unter den Schatten vergönnte.
An einer Stelle innerhalb der Großen Mauer, ein paar Fuß über dem Erdboden, bildeten die gewaltigen Quader, aus denen die Mauer erbaut war, einen riesigen Vorsprung, der sich von Ost nach West etwa zwei- bis dreihundert Fuß entlangzog. Diese vorspringenden Steine waren weiß bemalt, und auf eben diesem Mauervorsprung wurden am ersten Junimorgen eines jeden Jahres die Schnitzwerke aufgestellt, um vom Grafen Groan beurteilt zu werden. Die Werke, die man für die vollendetsten hielt - und das waren niemals mehr als drei -, wurden daraufhin in der Halle der Edlen Schnitzwerke aufgestellt.
Jene lebensvollen Objekte standen also reglos dort den ganzen Tag über, warfen an die dahinterliegende Mauer ihre phantastischen Schatten, die sich mit dem Sonnenlauf Stunde für Stunde bewegten und verlängerten, und strahlten trotz ihrer bunten Farben Düsternis aus. Die Luft zwischen ihnen war aufgeladen mit Verachtung und Hass. Die Künstler standen wie Bettler umher, um sich die schweigenden Familien geschart. Alle wirkten sie grob und frühzeitig gealtert. Jeglicher strahlende Glanz war verschwunden.
Die Schnitzwerke, die nicht erwählt worden waren, wurden noch am gleichen Abend im Hof unter dem Westbalkon des Grafen Groan verbrannt, und es herrschte der Brauch, dass der Graf während der Verbrennung dort stand und den Kopf wie im Schmerz gesenkt hielt; wenn dann von innen der Gong dreimal ertönte, wurden die drei von den Flammen verschonten Skulpturen hinaus ins Mondlicht getragen. Man stellte sie auf die Balustrade des Balkons, wo die unten versammelte Menge sie deutlich sehen konnte, woraufhin Graf Groan ihre Schöpfer aufrief. Nachdem sich diese sogleich unter ihm aufgestellt hatten, warf der Graf die traditionellen Pergamentrollen hinab, die, wie ihr Inhalt besagte, den Künstlern die Erlaubnis gaben, den Wehrgang über ihren Behausungen bei Vollmond eines jeden zweiten Monats zu betreten. In diesen festgelegten Nächten ko