Verlag | Verlag Theater der Zeit |
Auflage | 2017 |
Seiten | 256 |
Format | 13,5 x 20,5 x 1,9 cm |
Englisch Broschur | |
Gewicht | 362 g |
ISBN-10 | 3957491118 |
ISBN-13 | 9783957491114 |
Bestell-Nr | 95749111M |
Michael Schindhelm erzählt die Geschichte des Matthias Pollack, Chefdramaturg am Berliner Liebknecht-Theater, das nach 25 Jahren als das Nonplusultra des deutschen Theaters nun zur Beute eines kosmopolitischen Kulturmanagers werden soll. Was wie eine Allegorie auf die Gegenwart der Berliner Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz erscheint, wird mehr und mehr zur beklemmenden Einsicht in die Selbstentfremdung des Protagonisten. Pollack, Ende fünfzig, Sohn Ostberliner Intellektueller, gerade von seiner jungen Freundin verlassen, ist auf dem Weg zur 463. Vorstellung von "Einer flog über das Kuckucksnest": Entstanden im Herbst 1989 als Abrechnung mit der Staatswillkür der DDR, dann transformiert in eine Attacke auf die Zumutungen des Kapitalismus, soll diese Inszenierung, die den Ruhm des Liebknecht begründet hat, heute in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters zum letzten Mal gespielt werden. Niemand kann vorhersehen, was an diesem Abend geschehen wird.
Leseprobe:
3Die Bahn Richtung Friedrichstraße war losgefahren undso rüttelte nun das für unsere Hauptstadt ungewöhnlichgepflegte Regierungsviertel vorbei.In gut zweieinhalb Stunden würde die vierhundertdreiundsechzigsteVorstellung von Einer flog über das Kuckucksnestbeginnen, einer Produktion, die im Herbst 1989 entstandenwar und wie keine andere die revolutionäre Tugend jenerZeit beschworen hatte. Das war übrigens nicht meine Privatmeinung,sondern stand am Vortag - als Tipp zum Wochenende- fast buchstäblich so in der Zeitung.Das Theater, unser Liebknecht-Theater, war damals dasGlashaus gewesen. Ich einer von denen, die drin gesessenhatten. Und jetzt spielten wir dieses Stück im achtundzwanzigstenJahr. Die Vorstellung war auch diesmal ausverkauft.Und darauf würde der letzte Vorhang folgen.Vor nicht einmal drei Jahren hatte ich dafür gesorgt,dass sie die Abendspielleitung von Kuckucksnest übernahm.Doch im letzten Herbst hatte ich zugelassen, dass sie dieseProduktion gegen Malapartes Die Haut getauscht hatte, weildort jemand krank geworden war. Gegen meinen Willenhatte ich das zugelassen. Sie war die weitaus bessere Assistentingewesen als Leitterfeldt, der seitdem Kuckucksnestbetreute. Hätte ich im letzten Herbst meinen Willen durchgesetzt,würde ich sie unweigerlich heute Abend im Theatersehen.Meine revolutionäre Tugend war mitnichten unerschöpflich.Im besten und im schlimmsten Fall sollte ichnoch heute herausfinden, was sie mit ihrem orakelhaftenWarte nicht auf mich gemeint hatte. Im besten Fall würde siespätestens heute Nacht in der Solinger auftauchen und sichstill neben mich legen. Wir würden über Oia reden. Über dieIntimität im Glashaus. Eine konkrete Zukunft. Sie würdesich an meinen ausgezehrten, liebebedürftigen Körper klammern.Irgendwann würde das Knistern zurückkehren.Aber es gab einen viel wahrscheinlicheren Fall: Sie warzu Stölzli zurückgekehrt. Der schlimmstmögliche Fall,schoss es mir durch den Kopf, als ich gerade mein rechtesOhr gegen die Fensterscheibe d es Waggons drückte und dieAugen geschlossen hielt. Stölzli! Oh, worauf ich mich danngefasst machen musste! In zwei Stunden, noch vor der Vorstellung,würden wir uns ja über den Weg laufen. Er, in seinerverbindlichen Art, würde mich grüßen. Einen unbestimmten,gut gespielten Skrupel in der Visage. Ich hörte ihn bereits mitbelegter Stimme sagen: "Können wir später drüber reden?"Ausgeschlossen war das beileibe nicht. Leute wie Stölzlikriegen emotional instabile Frauen mühelos herum. Sie warderzeit emotional instabil. Wegen des Mangels an Auseinandersetzung,meiner Versunkenheit, wegen der Zukunft.Immer leutselig, Merci hier und Merci da und Grüezimiteinand, wie die Schweizer halt so sind, wendete Stölzlivirtuos seine Tricks an. Besonders das notorische Versteckspielin der Anwendung des Hochdeutschen machte was her.Vor allem die Westdeutschen haben oft genug eine erotischeSchwäche für den radebrechenden Ausländer bewiesen.Besonders im Showgeschäft.Sie war eine Westdeutsche. Er der Show-A ffe. WieWilhelm Tell reden, aber wie Robert de Niro aussehen. Mirreichte er nur bis zum Schlüsselbein, aber für Frauen ineinem bestimmten Zustand reichte er damit weit genug.Womöglich nun zum wiederholten Mal auch für sie.Im Kuckucksnest standen wir uns in einer Szene aufwenige Zentimeter gegenüber. Er McMurphy, ich HäuptlingBromden. Er quasselte irgendwelches Vierwaldstätterdeutschauf mich ein, als hätte er Kieselsteine im Hals, ichließ das schweigend über mich ergehen. Die Leute dachtenimmer, das sei Kunst. Dabei war es bei ihm Natur. PureSchweizer Natur. Selbstredend hatte er so die besseren Karten.Es fiel ihm zu.Der Stölzli hatte sicher nie im Glashaus gesessen. Daswürde er keine fünf Minuten durchstehen. Immer musste erantichambrieren, vor dem Publikum, vor den Frauen. Wäreer damals schon im Liebknecht gewesen, hätte er auch mitder Stasi antichambriert. Vielleicht hätte er sogar die Stasirumgekriegt.Ein wenig Verständnis