Anders, als man denkt - Leben mit einem behinderten Kind
Vergleich zu frühere Preisbindung2
Verlag | Gütersloher Verlagshaus |
Auflage | 2009 |
Seiten | 191 |
Format | 22 cm |
Gewicht | 346 g |
ISBN-10 | 3579068881 |
ISBN-13 | 9783579068886 |
Bestell-Nr | 57906888M |
Grenzerfahrungen - Leben mit einem behinderten Kind
Plötzlich wurde ihr Leben ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte: Jutta Flatters hat sich auf das Risiko eingelassen, möglicherweise ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Als ihre Tochter geboren wurde, war diese schwerst behindert. Das veränderte alles von Grund auf: die Beziehungen innerhalb der Familie, soziale, berufliche und finanzielle Dinge.
Offen erzählt Julia Flatters, was es bedeutet, mit einem behinderten Kind zu leben, welche Erfahrungen und schmerzhaft errungenen Einsichten sie dadurch gewonnen hat. Mit ihrem Buch möchte die Autorin Betroffene stärken und alle nicht Betroffenen ermuntern, über ihr »normales« Leben nachzudenken.
Leseprobe:
Wer hätte das gedacht? Am späten Abend, wenn ich unsere 13-jährige Tochter auf ihrer Therapieliege für das Bett fertig mache, zieht sie, ihre Hand bestimmt, aber vorsichtig-zärtlich in meinem Nacken, meinen Kopf herunter, an ihr Ohr, in das ich flüstern muss, lange erst in das eine, dann in das andere Ohr - und sie lacht selig, lautiert vergnügt und schaut mir zwischendurch tief in die Augen.
Oder sie "rauft" mit mir, ihrem Papa oder ihrer Schwester, wild strampelnd, dreht und wendet sich, so dass das Umziehen harte Arbeit ist, zieht hin und wieder an unseren Haaren (keine Aggression, sondern halt eine ihrer "Waffen" im "Ringkampf") - und kriegt sich schier nicht mehr ein vor Freude, dass sie unseren Pflegebemühungen entwischt.
Dieser Kontakt, diese Nähe, dieses Glück - wer hätte das gedacht, als alles anfing? Da haben wir von solchen Situationen nicht mal zu träumen gewagt!
Der Anfang war schwer, so schwer, dass ich wohl vieles vergessen bzw. verdrängt habe. Dabei wussten wir gar nicht gleich, dass unsere Tochter "schwer mehrfach", das heißt schwer körperlich und geistig behindert sein würde. Dass es so sein könnte, ließ der Verlauf dieser meiner zweiten Schwangerschaft ahnen und bestätigten die Ärzte nach einer Fruchtwasseruntersuchung als 50%ige Möglichkeit. Ein unklarer Befund ließ nicht mehr Gewissheit zu, bestärkte aber gerade deshalb den Verdacht, das Kind könnte behindert sein. Unter ständiger Überwachung verbrachte ich zwölf Wochen fast ununterbrochen im Krankenhaus - mit einer fünfjährigen Tochter zu Hause - bis zum vorzeitigen geplanten Kaiserschnitt Anfang der 37. Woche. Das Licht der Welt erblickte ein 1.880 Gramm leichter Winzling (auch für dieses Alter viel zu leicht), das den nächsten Morgen in meinem Bauch voraussichtlich nicht mehr erlebt hätte. Zum ersten, keineswegs zum letzten Mal hatten wir Glück - hier in Gestalt einer Ärztin und einer Hebamme mit dem richtigen Gefühl: Jetzt muss das Kind kommen! Und das Entbindungsteam kämpfte hartum ihr Leben.
Als ich, noch halb bewusstlos von der Vollnarkose, sie in ihrem Wärmebettchen kurz vor dem Abtransport in die Kinderklinik sah, hatte ich nur zwei Gedanken: Der Albtraum ist wahr geworden, aber du lebst, tapferes Kind! Und ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit und Liebe, mit dem ich wenigstens kurz in den Inkubator greifen und sie einmal berühren durfte.
Vier Monate Klinik folgten, unterbrochen nur von einem knapp zweitägigen ersten Entlassungsversuch nach zwei Monaten, dann zehn Jahre, in denen die Kinderklinik zu meinem "Zweitwohnsitz" wurde. Eine eindeutige Diagnose gibt es bis heute nicht, nur ein immer komplexer werdendes Syndrom. Manchmal kam ich mir vor, als ob wir, Eltern, Ärzte, Ärztinnen, Pflegepersonal, alle mit diesem unbekannten Syndrom wie mit einem Drachen kämpften: Wir hauten einen Kopf ab - und zwei neue wuchsen nach.
Unsere Tochter entpuppte sich als tapfere Kämpferin: Bis zur totalen Erschöpfung wehrte sie sich schreiend und strampelnd gegen alle Eingriffe und schließlich jegliche Berührung, aber sie hielt durch - und mit der Zeit konnte sie offensichtlich in den Zeiten, in denen sie gerade mal nicht akut krank war, ein wenig Entspannung finden.
Zwischen diesen Anfängen und der eingangs beschriebenen Szene liegt also ein langer Weg - ein Weg voller banger Stunden, schmerzlicher Erfahrungen und bitterer Einsichten, aber auch ein Weg, auf dem wir lernten, das Leben mit Behinderung als eine Herausforderung zu sehen und als eine Chance, vieles neu sehen zu lernen.
Davon will ich hier erzählen, primär also von mir - und von unserer behinderten Tochter "nur" insofern ihr Schicksal eng mit meinem, meines mit ihrem verbunden ist.
Aus "Schlüsselerfahrungen" lernen
Als "Schlüsselerfahrungen" (vom Englischen disclosure experiences) werden in der Theologie Erfahrungen bezeichnet, die einen "entschlüsselnden", offenbarenden Charakter haben. Bildlich gesprochen werden überraschend Türen geöffnet